Der Zirkus war in der Stadt gewesen. Schon wieder, hatte ich gedacht. Den Geruch des Strohs, das Licht der Glühbirnen am Balkon vor der Zirkusmusikkapelle, die bunten Stoffbahnen des Zirkuszeltes hatte ich nie beachtet, nur an die Clowns gedacht.

Wenn das Absperrgitter bei der Löwennummer zusammenbricht, der Bär sich von der Leine losreißt, die Tiere mich fressen, der Feuerschlucker mich verbrennt oder der Artist vom Trapez aus der Kuppel auf mich stürzt und erschlägt, wäre mir das egal, hatte ich gedacht. Nur die Clowns wollte ich nicht sehen. Ich hatte Angst gehabt, sie tun mir weh. Sie sind böse und verstecken sich hinter ihrer Schminke.

Meiner Mutter erzählte ich nie davon, weil ich mich schämte. Sie hatte in die Hände geklatscht, wenn die Clowns gekommen waren, gelacht, wie sonst nie, mir die Wangen getätschelt, über meine Haare gestrichen. Ich hatte auch geklatscht. „Du magst doch den mit der gelben Hose und der roten Nase auch am liebsten“, hatte meine Mutter gesagt. Meine Antwort, geflüstert in den Ärmel meines Pullovers, hatte sie nicht gehört: „Ich hasse ihn“. Damals war ich zwölf Jahre alt.

Jetzt gehe ich auf dem Mittelstreifen der Straße. Fahrer von Autos hupen, schimpfen aus den offenen Fenstern oder fahren einfach vorbei. Die sind mir am liebsten.

Ich schwitze und mir ist schlecht. Seit fünf Tagen geht es mir so. Gesehen habe ich ihn noch nicht. Sicher fühle ich mich in meinem Bett, dann, wenn ich die Decke über meinen Kopf gezogen, die Füße angewinkelt und das Licht im Zimmer aufgedreht habe. Lange habe ich mich gefreut achtzehn Jahre alt zu werden, erwachsen, unabhängig und frei. In zwei Tagen ist es soweit.

„Roland“, hatte meine Mutter vor ein paar Tagen gesagt und gelächelt, „dieses Jahr habe ich eine besondere Überraschung für dich, zu deinem Geburtstag. Du wirst Freude haben“.

Einen Tag später war ein Brief für mich in der Post, in einem schwarzen Kuvert, in dem stand, dass jemand, der mich sehr mochte, mir ein Geschenk zum Geburtstag gemacht hatte. Und dass ich es nie im Leben vergessen werde und die nächsten sieben Tage voller Überraschungen sein werden.

Hier, auf dem Mittelstreifen dieser Straße, fühle ich mich besser. Ginge ich am Bürgersteig konnte er hinter jeder Hausmauer, hinter jedem Baum, hinter jedem geparkten Fahrzeug vorspringen und mir die Torte in das Gesicht werfen.

Dann hätte er gewonnen, dies war sein Ziel. Meines, so wurde mir in dem Brief geschrieben, war es, ihm zu entkommen. Sieben Tage. Dann wäre ich der Sieger, stand darin, und könnte stolz auf mich sein. Besuchen wird er mich dann, mir die Torte geben und ein Diplom.

Vor zwei Tagen, als ich nach Hause gekommen war, stand eine schwarze Kerze auf der Stiege zu unserer Wohnung. Der Docht brannte, die Flamme warf Schatten des Handlaufes aus Schmiedeisen an die Wand. Aus Angst von ihm entdeckt zu werden, hatte ich das Licht im Stiegenhaus nicht aufgedreht. Ein Zettel lag dort, auf dem stand: „Du wirst deinen Geburtstag nicht erleben“, auf der Rückseite: „ohne, dass ich dir die Torte in die Fresse geschmissen habe,“ und „Herzlichst, Henri, dein Clown“.

Gestern kam wieder ein Brief. Als ich ihn geöffnet hatte, fielen Konfetti heraus und Buchstaben, gestanzt aus schwarzem Karton. Ich hatte die Buchstaben geordnet und gelesen: „ Aus, Arnold “ und es nicht verstanden. Viel später erst, habe ich erkannt, dass sich auch: „ Roland, Sau“ ausgegangen wäre.

Es sind zwei Querstraßen bis zu dem Haus in dem ich wohne, ich gehe auf den rechten Straßenrand zu.

Er steht vor mir. Ich will weg. Ich kann nicht. Sein Gesicht nähert sich, ich sehe Risse in der Schminke, spüre seinen Atem auf meiner Wange, er lacht, hebt die Hand mit der Torte. Ein Wagen biegt in die Gasse ein. Der Clown schaut zu dem Auto. Ich laufe davon. Ob er die Torte geworfen hat, kann ich nicht sehen. Gehört habe ich nichts.

Jetzt renne ich durch das Stiegenhaus, öffne die Wohnungstüre. Meine Mutter sagt: „Ich habe dir Essen in den Kühlschrank gestellt und ein Paket in dein Zimmer“. „Keinen Hunger“, rufe ich. Auf dem Schreibtisch steht das Paket. Daneben liegt mein Mobiltelefon. Sieben neue Nachrichten, steht auf dem Display. Ich setze mich auf mein Bett.

Noch achtundvierzig Stunden, denke ich, und blicke nicht zum Schreibtisch. Morgen ist Sonntag. Am Montag ist mein Geburtstag und meine Mutter hatte gesagt, dass ich um sechs Uhr wegen der Überraschung hier sein soll. Es ist mir egal. Ich will nur, dass es vorbei ist.

„Telefon“, ruft meine Mutter, „für dich, wichtig“. „Komme“, antwortete ich, vergesse den Clown. Lilly wird das sein, sie will mich einladen mit ihr meinen Geburtstag zu feiern, denke ich, und, warum ruft sie mich nicht auf dem Mobiltelefon an.

„Lilly?“, sage ich. Aus dem Telefon höre ich einen Pfeifton, dann ein Lachen, ein Lachen wie man es aus Filmen kennt, wie aus einem Grab oder einem leeren Raum. Dann eine Stimme: „Hier ist Henri. Dein Clown. Ich kriege dich.“ Wieder das Lachen. Ich lasse den Hörer fallen.

„Was Schlimmes?“, fragt meine Mutter. „Garnix, nur ein Scherz von Lilly“, sage ich, drehe mich um, damit sie meine Tränen nicht sieht und laufe in mein Zimmer.

Vielleicht hat Lilly eine Nachricht geschickt, denke ich, und nehme mein Mobiltelefon zur Hand. Alle Nachrichten waren von einem unbekannten Absender geschickt worden, ich lese sie: „Sei bereit, ich komme zu dir, bald bin ich da, fürchte dich, noch ein paar Stunden, ich bin ganz nahe, es gibt kein Entkommen“. Ich lösche die Nachrichten.

Ich nehme das Paket und schüttle es. Meine Hände zittern. Ich höre nichts. Absender steht keiner darauf. Kein schwarzes Papier. Das hat nichts mit ihm zu tun, denke ich, und reiße das Paket auf. Ein Schuhkarton, Damenschuhe, Größe 38, Ballerinas sind schematisch abgebildet. Echt Leder steht auf dem Etikett. Typisch Lilly, denke ich.

Ich nehme den Deckel ab und sehe, dass die Schachtel mit Holzwolle gefüllt ist. Mit beiden Händen krame ich darin. Es fühlt sich kalt an. Metallisch. Ein Rahmen. Glas. Ein Bild von ihr, denke ich. Ich nehme es heraus, lasse es fallen. Das Bild liegt vor dem Schreibtisch auf dem Boden. Eine Fratze starrt mich durch die Scherben an. Ein weißes Clowngesicht, umrahmt von roten Haaren, eine Clownnase, schwarze Augenbrauen und ein grinsender Mund. Eine blaue Halskrause aus Tüll am unteren Bildrand. Seine Zähne sind gelb, denke ich, auch die Augäpfel. In schwarzer Schrift steht auf dem Bild: „Du wirst mich niemals vergessen“.

Ich lege mich in mein Bett, ziehe mir die Decke über den Kopf und die Beine an. Morgen, denke ich, gehe ich nicht aus dem Haus. In dieser Nacht kann ich nicht schlafen.

Am Montag sage ich zu meiner Mutter, dass ich krank bin, aber hoffentlich bis zum Abend wieder fit bin, damit ich ihr bei der Überraschung den Spaß nicht verderbe. Und dass es mir leid tut, weil ich ja Geburtstag habe.

„Das kann man sich nicht aussuchen“, sagt sie, tätschelt mir die Wange und streicht  mir über die Haare. Ich bin wieder eingeschlafen. Aufgewacht bin ich oft, ich konnte nicht aufstehen, jetzt muss ich. Es ist zehn Minuten vor sechs Uhr.

Punkt sechs Uhr läutet es bei uns. Meine Mutter öffnet die Tür und sagt zu dem Clown: „Kommen Sie herein. Wir warten schon.“
„Schön“, sagt er.

Im Wohnzimmer sitzt Lilly. Sie hat ein Paket auf dem Schoß. Der Clown fragt: „Wo ist er nun, der tapfere Roland“. Als ich ihm die größte Scherbe des Bildes in den Hals ramme, empfinde ich nichts. Auch nicht den Schmerz als das Glas mir die Sehne zwischen Daumen und Zeigefinger durchtrennt. Wie das Blut über meine Hand rinnt, muss ich lachen. Es klingt wie aus einem Grab. Oder wie aus einem leeren Raum, denke ich.

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